Über das Lesen (von Christine Sinnwell)

Über das Lesen Warum ist Lesen für mich so wichtig? Ich kann mich kaum an Zeiten in meinem Leben erinnern, in denen Bücher nicht ein wichtiger Wegbegleiter waren. Sie haben mich unterhalten, sie haben mich belehrt, sie haben mich getröstet, aber auch verwirrt, manchmal auch abgestoßen, dann wieder bin ich in sie hineingetaucht, in ihren Geschichten aufgegangen, um dann wieder auf Bücher zu stoßen, die sich mir komplett verweigerten. Doch immer war sie da. Die Faszination des Unbekannten, des Neuen und manchmal auch des Altbewährten.
Denn es gibt sie, diese Bücher, die einen immer wieder und wieder fesseln. Die man liest und wieder liest und die dabei dennoch nicht langweilig werden. Die mit der Zeit fast schon zu Freunden werden. Man kennt sich, man weiß was einen erwartet und dennoch freut man sich auf ein Wiedersehen (oder sollte ich sagen, ein Wiederlesen?). Andere Bücher fange ich an zu lesen, lege sie wieder auf Seite, versuche mich wieder ein zweites und vielleicht sogar ein drittes Mal an ihnen, bevor ich es aufgebe und feststelle, dass keine Sympathie auftaucht.
Sehr oft lese ich, um unterhalten zu werden. Ich möchte in die Geschichten vollkommen eintauchen und mich in ihnen treiben lassen. Genau diese Eigenschaft von Büchern hat mich wohl auch als Kind zu einer Leseratte werden lassen. In Büchern ist alles möglich. Sie sprengen die Grenzen der Wirklichkeit, regen die eigene Phantasie an. Das hat auch auf mich einen großen Anreiz ausgeübt. Mit Bastian nach Phantasien zu reisen oder mit Kapitän Nemo in die Tiefen des Meeres vor zu dringen, waren wundervolle Stunden. Die Wirklichkeit für ein paar Stunden zu verlassen und neue Welten kennen zu lernen, sind für mich die spannendsten Reisen meines Lebens gewesen. Bücher öffnen gerade Kindern ganz neue Welten und laden zu den phantastischsten Abenteuern ein.
Doch genau so gerne, wie ich in Geschichten eintauche, mag ich Bücher, die zum Nachdenken anregen. Die mir neue Denkimpulse geben oder die es schaffen, mir eine neue Perspektive zu eröffnen. Ich denke beispielsweise an die Lyrik Celans. Als ich mich zum ersten Mal einem seiner Gedichte gegenüber sah, bin ich fast verzweifelt. Einer Mauer von Unverständnis sah ich mich gegenüber. Hatte das Gedicht (es heißt Keine Sandkunst mehr) überhaupt einen Sinn? Und wenn ja welchen? Doch ich wollte es verstehen und begann mit den wenigen Zeilen zu arbeiten, zu spielen und auch zu kämpfen. Tagelang, wochenlang habe ich mich auf die Suche nach einem Sinn gemacht und ihn dann auch für mich gefunden Andere Leser mögen andere Antworten in diesem Gedicht finden. Und zum ersten Mal habe ich erkannt, dass Lesen mühselig sein kann, dass man daran verzweifeln kann und dass es eine große Herausforderung darstellen kann. Für mich stellte die Begegnung mit der Lyrik Celans eine ganz neue Erfahrung dar. Lesen macht nicht nur Freude (ich gebe zu, das habe ich auch bei mancher Pflichtlektüre in der Schule gedacht). Lesen kann schmerzhaft sein, es kann uns anstrengen und an unseren Nerven zerren. Aber dennoch birgt auch diese Form des Lesens faszinierende Augenblicke in sich. Und gerade bei Literatur, die sich uns nicht leicht erschließt, kann es umso interessanter sein, sich doch auf sie einzulassen. Sich mit ihr zu beschäftigen und sich mit ihr auseinander zusetzen. Stundenlang, tagelang, wochenlang. Manche Bücher und manchmal auch nur einzelne Sätze daraus, begleiten uns ein Leben lang. Wir lesen sie und vergessen sie nie wieder. Ein Satz hat sich mir eingeprägt und ich trage ihn seit fast zwanzig Jahren in mir. Er stammt aus dem kleinen Prinz von Saint-Exupéry: „Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ Lesen bedeutet für mich aber auch Lernen. Es bereitet mir Freude, mich auf neue Gedankengänge einzulassen. Es interessiert mich, wie ein Thema in den verschiedenen Darstellungsformen behandelt wird, wie die Lyrik ein Thema anders aufgreift, als ein Drama oder ein Roman. Ich selbst mag jede dieser Darstellungsformen, finde Romane in der Regel aber am bequemsten. Dennoch, manchmal sind es gerade die unbequemen Formen, die die stärkste Faszination auf mich ausüben.
Was ich mir nicht vorstellen könnte, wäre eine Zeit in meinem Leben, in dem das Lesen keinen Platz mehr finden würde. Immer und überall halte ich nach Büchern Ausschau. Bin ich auf Besuch, schweift mein Blick in die Regale und tastet die Buchrücken ab, fahre ich mit dem Zug, versuche ich zu erspähen, was mein Gegenüber am Lesen ist.
Über das Lesen lautet der Titel dieses Aufsatzes. Habe ich genug geschrieben? Habe ich alles gesagt, was ich über das Lesen sagen möchte? Sicherlich nicht, doch während Sie diese Zeilen lesen, bin ich bereits wieder am Lesen eines neuen Buches, sammle neue Erfahrungen und Eindrücke und überlege, was ich beim nächsten Mal über das Lesen schreiben werde.